Good Practice
31.01.2024

Fraunhofer ISE: Schutzkonzept sexualisierte Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz

Good Practices gegen Sexismus zeigen konkrete Lösungsansätze auf und können als Anregung für andere dienen. Um aus den Erfahrungen anderer zu lernen, veröffentlichen wir regelmäßig gute Praxisbeispiele. Dieses Mal: Das Fürsorgekonzept zur Prävention und Intervention rund um das Themenfeld sexualisierte Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg.

 

Dr. Saskia Kühnhold-Pospischil, Wissenschaftliche Referentin der Institutsleitung am Fraunhofer ISE:

Das Fürsorgekonzept „Hinsehen – Vorbeugen – Handeln“ am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg wurde 2019 eingeführt. Das Ziel des Fürsorgekonzepts ist es, präventiv, durch beispielsweise ein gezieltes Schulungsangebot, aktiv zu sein aber auch im Fall von sexualisierter Grenzüberschreitung fallspezifisch intervenieren zu können. Wir sind uns relativ sicher, dass wir durch unser Konzept sexualisierte Belästigung und Gewalt nicht vermeiden können. Unsere Hoffnung ist aber, dass Fälle von sexualisierter Gewalt und Belästigung im Schnitt früher gemeldet werden und so einer Eskalation nachhaltig entgegengewirkt werden kann. Das Konzept wurde als Reaktion auf einen Fall sexualisierter Belästigung und Gewalt in einer eigens dafür einberufenen Kommission erarbeitet. Beteiligt waren verschiedene Interessengruppen und Bereiche aus dem ISE, darunter Betriebsrat, Beauftragte für Chancengleichheit, Verwaltungsleitung, Führungskräfte und Personalentwicklung.

Unter dem Namen „Hinsehen-Vorbeugen-Handeln, Prävention und Intervention sexuelle/ sexualisierte Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz“ setzt sich das Fürsorgekonzept aus mehreren Teilen zusammen:

  • Klare Regeln: Ein Verhaltenskodex und klare Statements der Institutsleitung schaffen eindeutige Regeln, die für mehr Sicherheit sorgen, und verdeutlichen: „Null Toleranz gegenüber sexueller Belästigung am Arbeitsplatz“.
  • Prävention: Ein besonderer Fokus liegt auf der Prävention sexueller Belästigung. Neben Flyern, die an alle und vor allem neue Mitarbeitende verteilt werden, sollen Schulungen zur Sensibilisierung und Aufklärung beitragen. Dazu wurden intern Personen ausgebildet, die meist im Tandem mit externen Trainer*innen arbeiten. Durch die Thematisierung sexualisierter Gewalt soll eine Enttabuisierung geschaffen werden, um die Hemmschwelle für Beschwerden zu senken.
  • Intervention: Für den Fall eines Vorfalls oder Verdachts von Grenzverletzungen, sexuellen Übergriffen oder sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz wurden entsprechende Handlungsweisen ausgearbeitet. Im Beschwerdefall wird ein „Vertrauensrat“ herangezogen, um den Prozess zu begleiten.
  • Vertrauensrat: Dieses ständige Gremium ist ansprechbar sowohl für Betroffene, für beobachtende Menschen und Vertrauenspersonen, als auch für Mitarbeitende, die ihr eigenes Handeln reflektieren wollen. Menschen, die Teil des Vertrauensrates sind, werden entsprechend ausgebildet, um mit gemeldeten Fällen professionell umzugehen.

Ziel des gesamten Konzepts ist es, möglichst betroffenengerecht zu agieren. Das bedeutet, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt, aber auch Menschen, die zukünftig betroffen sein könnten, im Zentrum stehen.

Herausforderungen ergeben sich besonders dadurch, dass jeder Fall von sexualisierter Belästigung und Gewalt ein Sonderfall ist. Das bedeutet auch, dass wir als Institut stetig dazulernen, und damit entwickelt sich auch unser Fürsorgekonzept immer weiter. Dazu gehört auch, dass sich die Fachkräfte in unserem Institut stetig weiterbilden müssen und auch immer wieder neue Menschen ausgebildet werden müssen. Zur inhaltlichen Weiterentwicklung gehört auch, dass es nach jedem abgeschlossenen Fall einen gemeinsamen Rückblick gibt und Erkenntnisse als „Lessons Learned” gesammelt werden. Sie fließen in künftige Fallberatungen ein.

Es braucht also engagierte Menschen und eine klare Rückendeckung von Entscheidungsträger*innen. Nicht zu vergessen ist, dass es rund um Fälle von sexualisierter Belästigung und Gewalt Menschen gibt, denen es teilweise sehr schlecht geht. Viele Studien berichten über die teilweise schwerwiegenden Auswirkungen auf Menschen, die betroffen von sexualisierter Gewalt und Belätigung am Arbeitsplatz sind. Das kann auch für Fachkräfte, die in die Intervention eingebunden sind, kräftezehrend und herausfordernd sein. Nicht zuletzt auch dadurch, dass die Intervenierenden häufig sowohl betroffene Menschen, als auch Menschen unter Verdacht kennen.
Ein Baustein des Konzeptes besteht daher in den Möglichkeiten für beratende Menschen, jederzeit Fallsupervision in Anspruch nehmen zu können.

Trotz alledem und auch genau deshalb ist es wichtig, sexualisierte Belästigung und Gewalt präsent zu halten und sprechbarer zu machen. Unsere Hoffnung ist, dass so das Bewusstsein aller Mitarbeitenden für das Thema sexualisierte Gewalt und Belästigung steigt und die Hemmschwelle für Betroffene sich zu melden sinkt.

Mit diesem Einsatz und der Perspektive auf Betroffene hat das Fraunhofer ISE im Jahr 2021 den »BestChance« Award der Fraunhofer-Gesellschaft für besonderes Engagement mit wirkungsvollem Beitrag zur Chancengleichheit erhalten. Unser Fürsorgekonzept dient damit als Leuchtturm in der Fraunhofer-Gesellschaft. Es ist ein gutes Beispiel für erfolgreiche Maßnahmen gegen Grenzüberschreitungen und sexualisierte Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz und daher Vorbild für andere Unternehmen, Institutionen und Organisationen. Denn ein Vorgehen gegen sexualisierte Belästigung und Gewalt und ein selbstbestimmter Umgang mit eigenen Grenzen sowie das Respektieren der Grenzen anderer sind unverzichtbar.

Wir alle sollten einen Beitrag zu einer Kultur leisten, in der Nein-Sagen erlaubt ist und in der nicht die Menschen, die ihre Erfahrungen teilen, sondern die eigentlichen Taten verurteilt werden. Wenn ich einen Rat geben würde, dann ist es der: Macht euch lieber umgehend an ein Fürsorgekonzept und wartet nicht, bis es eskaliert! Im Übrigen bin ich der tiefen Überzeugung, dass eine Eskalation nicht im Sinne von Betroffenen sein kann.

Die Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Konzept gegen sexualisierte Belästigung und Gewalt ist jedoch immer, dass Entscheidungsträger*innen dahinterstehen.

Bei Interesse an dem Fraunhofer ISE Konzept, können Sie sich gerne bei uns melden.